Kapitel Siebenundzwanzig

1

»Tanenbaum ist Freitagabend ermordet worden«, sagte Ross Barrow, während er den Deckel von einem Plastikbecher mit schwarzem Kaffee nahm. Randy Highsmith zog einen mit Creme gefüllten Donut aus der Tüte, die Barrow auf Alan Pages Schreibtisch gestellt hatte. Es war immer noch dunkel draußen. Durch das Fenster hinter Page konnte man einen Strom von Autoscheinwerfern über die Brücken, die den Willamette River überspannten, fließen sehen. Montagmorgen, und die Pendler bewegten sich in die Innenstadt von Portland.

»Drei Tage, ohne dass sich jemand gemeldet hat«, murmelte Page mehr zu sich selbst und sich der Konsequenzen, die sich daraus ergaben, bewusst. »Hat sich gestern Nacht in Betsys Haus etwas getan?« fragte er Barrow.

»Eine Menge Beileidsanrufe, aber kein Entführer.«

»Was meinen Sie dazu?« wollte Page von Highsmith wissen.

»Erstens: Es handelt sich um eine Entführung, aber der Entführer hat sich noch nicht mit Betsy in Verbindung gesetzt. Aus Gründen, die nur er kennt.«

»Das Kind könnte bereits tot sein«, meinte Barrow. »Der Entführer wollte ein Lösegeld erpressen, aber die Sache lief schief, und er hat es getötet.«

»Ja«, stimmte Highsmith zu. »Oder, zweitens, er hat Kathy, ist aber nicht an einem Lösegeld interessiert.«

»Das ist die Möglichkeit, die ich gar nicht in Betracht ziehen will«, erklärte Page.

»Gibt es was Neues, Ross?« fragte Highsmith.

Barrow schüttelte den Kopf. »Niemand hat jemanden gesehen, der mit einem kleinen Mädchen das Haus verlassen hat. Wir haben keine Tatwaffe und warten immer noch auf die Ergebnisse der Laboruntersuchung.«

Page seufzte. In den letzten paar Tagen hatte er nur wenig Schlaf bekommen, und er fühlte sich völlig erschöpft.

»Das einzig Gute an dieser verdammten Sache ist der Aufschub, den sie uns im Fall Darius bringt«, bemerkte Page. »Was stand in den Überwachungsprotokollen?«

»Nichts, was uns helfen würde«, gab Barrow zurück. »Padovici und Kristol klebten von dem Moment an, als Darius um 6:43 Uhr morgens sein Anwesen verlassen hat, an ihm. Ich habe noch einmal mit Richter Ryder gesprochen. Er ist sicher, dass er bis halb acht mit Lisa gefrühstückt hat. Unsere Leute waren ohne Unterbrechung an Darius dran. Außerdem war Darius den ganzen Tag in seinem Büro mit Leuten zusammen. Ich habe jeden seiner Angestellten und alle Besucher zweimal befragt. Wenn sie ihm ein Alibi besorgen, dann sind sie verdammt gut.«

»Es muss eine Antwort geben«, stöhnte Page. »Haben die Leute, die Nancy Gordon suchen, etwas herausgefunden?«

»Nein, AI«, antwortete Barrow. »Seit sie in das Motel gezogen ist, hat sie niemand mehr gesehen.«

»Wir wissen, dass sie noch lebt.« In seiner Stimme schwang deutlich seine Enttäuschung mit. »Sie hat, verdammt noch mal, hier angerufen. Warum kommt sie nicht her?«

»Wir müssen langsam in Betracht ziehen, dass sie Sie angelogen hat«, meinte Highsmith. »Darius ist vielleicht doch nur ein Opfer gewesen in Hunters Point. Vielleicht war doch Waters der Mörder.«

Page wünschte sich, er könne Highsmith und Barrow sagen, was Turner ihm mitgeteilt hatte. Dann hätten sie gewusst, dass Nancy Gordon die Wahrheit sagte.

»Erinnern Sie sich, ich habe die Vermutung geäußert, dass Nancy Gordon unser Mörder ist, AI«, fuhr Highsmith fort. »Ich denke, wir sollten sie ernsthaft in Betracht ziehen. Mir fällt keine Begründung ein, warum sie wusste, dass Lisa Darius in dem Keller lag, es sei denn, sie hat sie selbst dort hingebracht.

Was ist, wenn sie Lisa besucht und sie überredet hat, mit ihr zu Martins Haus zu gehen und nach Beweisen zu suchen, damit er verurteilt wird? Sie gingen durch den Wald. Lisa wusste, wie die Alarmanlage ausgeschaltet wird. Martin Darius ist den ganzen Tag im Büro, und das Haus ist leer. Nancy tötet Lisa, um Darius hereinzulegen, wartet, bis er zurückkommt, und ruft dann hier an. Der einzige Makel an dem Plan ist, dass Nancy Gordon nichts von der Polizeiüberwachung wusste.«

»Nancy hat diese Frauen nicht umgebracht«, beharrte Page. »Darius hat sie getötet, und er wird nicht davonkommen.«

»Ich behaupte nicht, dass Darius unschuldig ist. Ich sage, dass dieser Fall immer weniger Sinn ergibt, je länger man darüber nachdenkt.«

Alan Page blickte auf seine Uhr. In Washington war es jetzt halb elf. »Das führt doch zu nichts. Ich will zu Rick Tanenbaums Beerdigung gehen. Und außerdem, ob Sie mir glauben oder nicht, ich habe noch einige Arbeit zu erledigen, die weder mit Martin Darius noch mit Puck Tanenbaums Mörder zu tun hat. Informieren Sie mich sofort, wenn es etwas Neues gibt!«

»Soll ich Ihnen ein Donut hierlassen?« wollte Barrow wissen.

»Sicher, warum nicht? Da ist mir heute wenigstens etwas Gutes widerfahren. Jetzt macht, dass ihr rauskommt, und lasst mich arbeiten!«

Ross Barrow reichte Alan Page ein Donut und folgte Highsmith auf den Flur. Sobald sich die Bürotür geschlossen hatte, wählte Page die Nummer von Senator Colbys Büro und verlangte nach Wayne Turner.

»Mr. Page, was kann ich für Sie tun?« meldete sich Turner. Page bemerkte die Anspannung in der Stimme des Assistenten des Senators.

»Ich habe das ganze Wochenende über die Informationen, die Sie mir gegeben haben, nachgedacht. Die Lage hier ist verzweifelt. Selbst meine eigenen Leute beginnen an Darius' Schuld zu zweifeln. Wir wissen, dass Darius in Hunters Point drei Menschen umgebracht hat, seine Frau und seine Tochter eingeschlossen, aber der Richter hier sieht in ihm ein unschuldiges Opfer und mich als jemanden, der unter Verfolgungswahn leidet. Wenn Darius freikommt, dann wird er ohne Zweifel wieder morden. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als den Senator in den Zeugenstand zu rufen.«

Die Leitung blieb einen Moment stumm. Als Wayne Turner zu sprechen begann, klang er niedergeschlagen.

»Ich habe mit Ihrem Anruf gerechnet. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich das gleiche tun. Darius muss gestoppt wer- den. Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Senator zu schützen. Betsy Tanenbaum scheint mir ein Mensch mit Verantwortungsgefühl zu sein.«

»Das ist sie, aber ich würde nicht auf sie zählen. Jemand hat am Freitag ihren Mann ermordet und ihre kleine Tochter entführt.«

»Mein Gott! Wie geht es ihr?«

»Sie versucht, damit fertig zu werden. Die Beerdigung ihres Mannes ist heute Nachmittag.«

»Das macht die Angelegenheit komplizierter. Ich hatte gehofft, wir könnten sie dazu bringen, Richter Norwood unter Ausschluss der Öffentlichkeit von dem Straffreiheitsabkommen zu berichten. Damit er die Information benutzen kann, um eine Kaution abzulehnen, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt.«

»Ich weiß nicht«, meinte Page zögernd. »Man halst sich eine Menge Probleme mit der Verfassung auf, wenn man versucht, die Presse zu knebeln. Außerdem musste Darius sein Einverständnis geben. Ich kann mir vorstellen, dass er versucht, Senator Colby zu Fall zu bringen.«

»Denken Sie mal darüber nach. Der Senator und ich haben darüber gesprochen. Wir sind vielleicht in der Lage, dem Sturm zu trotzen, aber nur, wenn es unbedingt notwendig ist.«

2

Sturmwolken warfen dunkle Schatten auf die Gesichter der Trauergäste, als die Beerdigung begann. Dann setzte leichter Regen ein. Ricks Vater öffnete seinen Schirm für Betsy. Der Wind wehte kalte Tropfen darunter, doch Betsy bemerkte sie nicht. Sie versuchte, sich auf die Chorale zu konzentrieren, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Kathy. Sie war dankbar für die Besorgnis, die jeder am Schicksal ihrer Tochter gezeigt hatte, doch jedes Mal, wenn sie erwähnt wurde, war es, als stieße man Betsy ein Messer ins Herz. Als der Rabbi sein Gebetbuch schloss und die Trauergäste langsam weggingen, blieb Betsy am Grab stehen.

»Lasst sie ein paar Minuten mit ihm allein«, hörte Betsy ihre Mutter zu Ricks Eltern sagen. Ricks Vater drückte ihr den Schirm in die Hand.

Der Friedhof erstreckte sich über sanfte Hügel. Die Grabsteine in der Nähe von Ricks Grab waren verwittert, aber die Gräber waren gepflegt. Im Sommer würde eine Eiche Schatten spenden. Betsy starrte auf Ricks Grabstein. Die sterblichen Überreste ihres Ehemannes waren nun von Erde bedeckt. Seine Seele war von ihm gegangen. Ob sie vielleicht zusammen eine Zukunft gehabt hätten, würde für immer ein Geheimnis bleiben. Diese Endgültigkeit machte ihr Angst.

»Betsy.«

Sie blickte auf. Samantha Reardon stand neben ihr. Sie trug einen schwarzen Regenmantel und einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht verdeckte. Betsy sah sich nach Hilfe um. Die meisten der Trauergäste liefen schnell zu ihren Wagen, um aus dem Regen herauszukommen. Ihr Bruder ging neben dem Rabbi, Rita sprach mit zwei Freundinnen. Ricks Familie stand mit dem Rücken zum Grab eng beieinander.

»Die Kautionsanhörung war für heute angesetzt.«

»Die Beerdigung. Ich konnte doch nicht...«

»Ich will keine Verzögerung, Betsy. Ich habe auf Sie gezählt, und Sie hintergehen mich. Ich war im Gericht, und Sie waren nicht da.«

»Wegen Ricks Beerdigung.«

»Ihr Mann ist tot, Betsy, aber Ihre Tochter lebt noch.«

Betsy spürte, dass es sinnlos war, vernünftig mit Samantha reden zu wollen. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Ihre Augen waren wie tot.

»Ich kann den Richter anrufen«, schlug Betsy vor. »Ja, das werde ich tun.«

»Das wäre gut, Betsy. Ich war so verärgert, als ich erfuhr, dass die Anhörung verschoben wurde, dass ich vergessen habe, Kathy etwas zu essen zu geben.«

»Bitte«, schluchzte Betsy.

»Sie haben mich geärgert, Betsy. Wenn Sie mich ärgern, dann werde ich Kathy bestrafen. Eine Mahlzeit pro Tag, mehr bekommt sie nicht, bis Sie getan haben, was ich Ihnen gesagt habe. Sie bekommt gerade so viel zu trinken und zu essen, dass sie überlebt. Die gleiche Ration, die ich in Hunters Point bekommen habe. Kathy muss leiden, weil Sie nicht gehorchen. Jede Träne, die sie vergießt, vergießt sie wegen Ihnen. Ich werde mich bei Gericht erkundigen, und es ist besser, wenn man mir dann einen Termin für die Anhörung nennen kann.«

Samantha Reardon ging. Betsy folgte ihr ein paar Schritte und blieb dann stehen.

»Sie haben Ihren Schirm vergessen«, meldete sich Alan Page.

Betsy drehte sich um und starrte ihn an. Der Schirm war ihr, während sie mit Samantha gesprochen hatte, aus der Hand gerutscht. Page hielt ihn über sie beide.

»Wie halten Sie das nur durch?« fragte Page.

Betsy schüttelte den Kopf. Sie wagte nicht zu sprechen.

»Sie werden das überwinden. Sie sind stark, Betsy.«

»Danke, Alan. Ich bin Ihnen für alles dankbar, was Sie für mich getan haben.«

Sie dachte an die vergangenen Tage. Es war schwer, mit dem Schmerz fertig zu werden, wenn das Haus voller fremder Leute war. Die FBI-Agenten und die Polizei versuchten, so wenig wie möglich zu stören, aber es gab keine Möglichkeit, allein zu sein, außer in ihrem Schlafzimmer. Page war wunderbar gewesen. Er war mit der ersten Gruppe am Samstagabend gekommen und bis zum Morgengrauen geblieben. Am Sonntag kam er mit belegten Broten wieder. Diese einfache menschliche Geste hatte Betsy zum Weinen gebracht.

»Gehen Sie nach Hause, Betsy. Aus diesem Regen hier heraus«, schlug Page vor.

Sie verließen das Grab. Page hielt den Schirm über sie, während sie den Hügel hinauf zu Rita Cohen gingen.

»Alan«, meinte Betsy und blieb plötzlich stehen, »können wir die Anhörung in der Sache Darius für morgen ansetzen?«

Page war einigermaßen überrascht. »Ich kenne Richter Norwoods Terminkalender nicht, aber warum wollen Sie morgen vor Gericht gehen?«

Betsy suchte nach einer vernünftigen Erklärung für ihre Bitte.

»Ich halte es nicht aus, im Haus herumzusitzen. Ich glaube nicht, dass der Entführer anrufen wird, wenn er schon die ganze Zeit nicht angerufen hat. Wenn... Wenn das eine Entführung wegen Lösegeld ist, müssen wir dem Entführer die Möglichkeit geben, mit mir Kontakt aufzunehmen. Er wird wahrscheinlich annehmen, dass meine Telefone abgehört werden. Wenn ich bei Gericht bin, unter Menschen, versucht er vielleicht, an mich heranzukommen.«

Page überlegte, wie er Betsy widersprechen könnte, aber was sie sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Der Entführer hatte keinen Versuch gemacht, telefonisch oder brieflich mit Betsy Kontakt aufzunehmen. Page selbst zog deshalb schon die Möglichkeit in Betracht, dass Kathy tot war, aber das wollte er Betsy nicht sagen. Wenn er ihr zustimmte, gab er ihr vielleicht etwas Hoffnung. Und das war alles, was er jetzt für sie tun konnte.

»In Ordnung. Ich setze die Anhörung so schnell wie möglich an. Morgen, wenn der Richter Zeit hat.«

Betsy senkte ihren Blick auf das Gras. Wenn Richter Norwood die Anhörung ansetzte, dann konnte Kathy morgen zu Hause sein. Page legte seinen Arm um ihre Schultern. Er gab Rita den Schirm, die ihnen den Hügel hinab entgegengekommen war.

»Gehen wir nach Hause!« bestimmte Rita. Ricks Familie versammelte sich um Betsy und begleitete sie zum Wagen. Page beobachtete, wie sie wegging, während der Regen auf ihn herab prasselte.

Auf ewig unvergessen
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